Stresstest Corona - Lehren für unser Land und die Christdemokratie

08.08.2020

Von Karl-Josef Laumann

Die Corona-Pandemie ist eine der größten Herausforderungen, die unser Land seit dem Zweiten Weltkrieg bestehen muss. Sie verlangt uns allen viel ab. Freiheiten, die wir für unantastbar hielten, mussten eingeschränkt werden. Gewissheiten, die wir für unumstößlich hielten, wurden auf die Probe gestellt. Corona ist aber nicht nur für jeden Einzelnen eine Herausforderung. 
Die Pandemie ist ein einziger großer Stresstest. Einige Systeme bestehen diesen Test, andere scheitern. Meine Erkenntnis: Nach der Krise haben wir einige Baustellen, aber wir haben auch große Stärken – insbesondere dort, wo wir sie nicht unbedingt vermuten.

Das Gesundheitswesen

Als Gesundheitsminister habe ich zu Beginn der Krise gesagt, dass wir ein leistungsfähiges, technisch gut ausgestattetes Gesundheitswesen mit motivierten und hervorragend ausgebildeten Fachkräften haben. Diese Aussage betrachte ich als bestätigt. Die im europäischen Vergleich hohe Zahl an Intensivbetten und Laborkapazitäten für Testungen und die gottlob bislang vergleichsweise geringen Todeszahlen sind hier ganz objektive Belege.

Nur schwer messbar – außer vielleicht an der Überstundenstatistik – ist der außergewöhnliche Einsatz der Beschäftigten in den Krankenhäusern und in der Pflege. Ich kann an dieser Stelle allen Beschäftigten im Gesundheitswesen nur meinen ausdrücklichen Dank dafür aussprechen, was sie bislang geleistet haben.
Denn Corona hat auch gnadenlos Schwachstellen offengelegt: Wir haben nach wie vor zu wenig Pflegekräfte – und das ganze System wird kräftig durchgeschüttelt, wenn vergleichsweise günstige Artikel wie Schutzmasken fehlen.

Die Globalisierung

Hier werden wir nach der Krise unsere Schlüsse ziehen müssen. Im Juni habe ich als ersten Schritt den Grundstein für ein landeseigenes Materiallager gelegt, das uns im Falle einer zweiten Infektionswelle vor einem Mangel an Schutzausrüstung bewahren soll. Mein Ministerium hat in den letzten Monaten Schutzmaterial für rund 500 Millionen Euro bestellt. Zur Einordnung: Für dieses Geld kann man fünf gute Krankenhäuser bauen. 

Zur Wahrheit gehört auch: Wir haben im Zuge der Globalisierung vielfach größere Erträge durch Auslagerung von Produktion ins Ausland und eine „Just-in-Time“-Lagerhaltung gewonnen. Dieses System ist durch Corona an seine Grenzen geraten. 

Ich bin davon überzeugt, dass wir nach Corona nicht nur staatliche, sondern vor allem auch größere private Lager für systemkritische Ausrüstung brauchen. Auch müssen wir Europäer einen Teil der Schutzausrüstungsproduktion in die EU zurückverlagern. Gleiches gilt für die Produktion von Schlüsselmedikamenten. Die Globalisierung – und die damit verbundenen ständigen Wohlstandsgewinne durch Arbeitsteilung – dürfte ihren Höhepunkt überschritten haben.

Das Subsidiaritätsprinzip

Viele Menschen – zumindest legt das die Kritik durch die Medien nah – hätten sich gerne eine einheitliche nationale Strategie zur Bekämpfung von Corona gewünscht. Vielleicht hätten bundesweit einheitliche Regelungen es leichter gemacht, die Vielzahl von Schutzmaßnahmen zu kommunizieren. Ich persönlich glaube aber nicht, dass wir damit unter epidemischen Gesichtspunkten besser dastehen würden. 

In meinen Augen hat sich die Arbeitsteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen in dieser Krise bewährt. Bei der Frage, warum Deutschland bislang erfolgreich durch die Krise navigiert ist, kann man die Rolle unserer subsidiären Strukturen kaum überschätzen. Teil der Erfolgsstrategie war, dass die Entscheidungen vor Ort getroffen wurden und nicht zentral aus Berlin oder Düsseldorf. Da, wo stärkere Durchgriffsrechte höherer Ebenen notwendig waren, konnten diese durch zeitlich begrenzte und parlamentarisch kontrollierte Pandemiegesetze schnell etabliert werden.

Auch hier sehe ich einen Erfolg unseres politischen Systems. Dennoch ist es richtig, dass ein Großteil der Pandemiebekämpfung in der Entscheidungshoheit der Kommunen liegt. Und um eines klar zu sagen: Die Kommunen und ihre Krisenstäbe, Ordnungs- und Gesundheitsämter haben eine großartige Arbeit geleistet. Corona hat ein Schlaglicht auf die vielfältige Arbeit dieser Behörden geworfen. Ich habe kürzlich gehört, dass einige Gesundheitsämter sich sogar über deutlich gestiegene Bewerberzahlen freuen können. Wenn die Pandemie die Wertschätzung für die Arbeit unserer Ämter erhöht, dann ist das ein sehr positiver Nebeneffekt.

Die systemrelevanten Berufe

Die Beschäftigten in unseren Gesundheitsämtern können sich, vermutlich zu Recht, über mangelnde öffentliche Wertschätzung beklagen – insgesamt aber nicht über geringe Bezahlung oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse.

Dies ist in vielen anderen Berufen, die wir in der Corona-Pandemie als „systemrelevant“ erkannt haben, nicht der Fall. Ich hoffe, dass die Krise auch aufzeigt, in welchen Verhältnissen viele Menschen arbeiten, die das System am Laufen hielten, als auch bei uns die Situation Spitz auf Knopf stand.

Wenn ich sehe, dass in der Pflege bis heute keine 50 Prozent der Arbeitgeber Tarifverträge unterschrieben haben, dann ärgert mich das.

Wenn in Berlin beim gemeinsamen Bundesausschuss Ärzte, Kassen und Krankenhäuser an einem Tisch sitzen, um zu diskutieren, wo das Gesundheitssystem hinsteuert, und die Pflege hat keine Stimme, dann ärgert mich das.

Wenn ich immer wieder höre, wie schlecht das Sozialprestige von den Menschen ist, die im Supermarkt hinter Kassen und Theken stehen, obwohl sie oftmals eine anspruchsvolle duale Ausbildung absolviert haben, dann ärgert mich das. Wenn wir laut für diese Menschen klatschen, aber am Ende unserer Gesellschaft die Kraft fehlt, etwas an der Situation in diesen Berufen zu ändern, dann ärgert mich das. Aber vielmehr noch macht es mich traurig.

Hier müssen wir ran. Die Wertschätzung für wesentliche Eckpfeiler unserer Gesellschaft darf sich nicht nur in schönen Sonntagsreden ausdrücken. Sie muss sich ganz real auch in der Entlohnung und den Arbeitsbedingungen zeigen. 

Die Fleischindustrie

Ein Treppenwitz im Zusammenhang mit der Systemrelevanz bestimmter Berufe ist die – tatsächlich geführte – Diskussion gewesen, ob man mit Corona infizierte Arbeitnehmer in Schlachthöfen arbeiten lassen kann. Schließlich seien diese Betriebe ja auch systemrelevant.

Mein Ministerium hat diese Frage nach einem Ausbruch in einem Schlachthof in Coesfeld eindeutig mit „Nein“ beantwortet. Wir haben die bis dahin größte Reihentestung in Deutschland veranlasst und rund 18.000 Arbeitnehmer in Nordrhein-Westfalens Schlachthöfen auf Corona getestet. Insgesamt waren 418 Menschen in acht Betrieben infiziert. Jenseits der Grenze hat mein niederländischer Amtskollege ähnliche Testungen und Kontrollen mit ähnlichen Ergebnissen durchführen lassen. Ein weiterer, erheblich größerer Corona-Ausbruch in einem Schlachthof in Rheda-Wiedenbrück Mitte Juni bestätigte schlussendlich meine
Überzeugung: Die Branche ist aus sich selbst heraus nicht reformierbar. 

In meinen Augen hat die Schlachtindustrie den Stresstest nicht überstanden. Sie hat nicht vor dem Hintergrund gestiegener Erwartungen an Hygiene-, Infektions- und Arbeitsschutz entsprechend reagiert. Sie hielt stattdessen am werkvertragsgetriebenen System des organisierten Wegschauens fest.

Ich habe es bereits im Landtag gesagt und ich will es auch hier noch einmal klipp und klar sagen: Die Missstände in der Fleischbranche waren seit Jahren bekannt. Die Branche hat seit Jahren Besserung gelobt. Man hat zwar auch den Mindestlohn in der Branche eingeführt und das GSA Fleisch-Gesetz verabschiedet. Doch nach all diesen Jahren muss man nüchtern feststellen: Es hat sich so gut wie nichts an den grundlegenden Problemen geändert. Hier ist für mich jegliches Vertrauen verspielt worden. 

Deshalb ist es nur folgerichtig, dass die Bundesregierung nun ein weitreichendes Paket vorgelegt hat, um die Situation der Beschäftigten in den Schlachtbetrieben zu verbessern. Was mich besonders freut ist, dass sie dabei zahlreiche Vorschläge meines Ministeriums aufgriff.

Das christliche Menschenbild

Corona ist nicht zuletzt auch ein Stresstest für die Gesellschaft. Dass Deutschland bislang so gut durch die Krise gekommen ist, verdankt es auch der Besonnenheit seiner Bürgerinnen und Bürger. Diese beweisen großen Zusammenhalt und das, obwohl wir uns nicht einig waren, wie die Krise bestmöglich zu meistern ist. Einige fanden unsere Maßnahmen zu lasch, andere zu streng. Einigen gingen die Öffnungen zu schnell, anderen zu langsam. Wir haben gemeinsam diskutiert, aber wir haben uns nicht auseinanderdividieren lassen. Und letztlich gab es einen großen gesellschaftlichen Konsens:  Menschenleben wiegen mehr als wirtschaftliche Belange.

Als Christdemokrat bestätigt mich das einmal mehr in meiner Überzeugung: Die Menschen sind viel besser, als die Pessimisten vermuten. Sie sind solidarisch, hilfsbereit und in der Krise besonnen, sogar dann, wenn sie existenzielle Ängste haben. Dies lässt mich am Ende zu dem Schluss kommen, dass wir als Politik den
Bürgerinnen und Bürgern grundsätzlich mehr zutrauen sollten. Denn die Menschen in Nordrhein-Westfalen haben den Stresstest Corona bestanden.