Schäuble: „Niemand hat das Recht zu behaupten, er allein vertrete ‚das‘ Volk.“

04.10.2018

In einer wortstarken und überzeugenden Rede hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble auf dem Festakt zum Tag der Deutschen Einheit für mehr Mut und Vertrauen in die Handlungsfähigkeit unserer Gesellschaft geworben.

Anbei ein Auszug aus seiner Rede:

„Denn wir spüren, dass alte Gewissheiten wanken. Als hätten wir den Blick für die Verbindung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verloren.
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus – die Gesetzgebung und ihre Auslegung, die Rechtsprechung. Ein sensibles Verhältnis. 
Beide muss das Volk nachvollziehen können. 
Recht und Gerechtigkeit stehen in einem Spannungsverhältnis. Das haben im inneren Einigungsprozess viele schmerzhaft erfahren, bei der Klärung von Eigentumsfragen, bei der Aufarbeitung begangenen Unrechts, beim Ausgleich erlittenen Leids. 
Und auch heute wird unser Rechtsempfinden immer wieder auf die Probe gestellt. Gefühle sind aber nicht justiziabel. Niemals.
Das Recht schützt den Schwächeren. Und der Rechtsstaat hat die Pflicht, das durchzusetzen. Das verlangt Respekt vor seinen Institutionen und Achtung vor dem staatlichen Gewaltmonopol. Wer immer daran rüttelt, legt Hand an unsere Ordnung.
Mehrheit sichert noch keine Freiheit. Das sieht man überall dort, wo die Demokratie gegen den Rechtsstaat ausgespielt wird – auf Kosten der Rechte, die den Einzelnen vor der Mehrheit schützen. Und vor staatlicher Willkür. Dann heißt es „Das Wohl der Nation steht über dem Recht“.
Auch in Deutschland begegnet uns die populistische Anmaßung, ‚das‘ Volk in Stellung zu bringen: gegen politische Gegner, gegen vermeintliche und tatsächliche Minderheiten, gegen die vom Volk Gewählten. 
Aber: Niemand hat das Recht zu behaupten, er allein vertrete ‚das‘ Volk. Der Souverän ist keine Einheit, sondern eine Vielheit widerstreitender Kräfte. So etwas wie ein Volkswille entsteht erst in der Debatte. Und nur durch Mehrheiten – die sich ändern können. 
Demokratische Reife beweist deshalb eine Nation nur, wenn sie sich ihrer Fundamente sicher ist, die Vielheit annimmt und trotzdem zu gemeinsamen Handeln kommt: durch Kompromiss und für alle tragbare Entscheidungen, die allerdings nie auf Ewigkeit angelegt sind. 
Verschiedenheit zu akzeptieren, die Vielfalt legitimer Interessen, Blickwinkel und Meinungen anzuerkennen und die eigenen Vorstellungen nicht zum Maß aller Dinge zu erklären: Das ist der gedankliche Schlüssel, um ein Mehr an Gemeinsamkeit zu schaffen.“

Die komplette Rede von Wolfgang Schäuble finden Sie hier (bitte klicken):